Renault Twingo Entwicklung: Von China-Geschwindigkeit profitieren – c´t

Renault Twingo
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In Europa gilt eine Entwicklungszeit von vier Jahren für ein Auto als guter Durchschnitt. Den neuen Twingo hat Renault in 100 Wochen auf die Straße gebracht.

Von den Büros der Renault Group im 20. Stock hat man einen guten Blick über den Fluss Huangpu in Shanghai. Das Gebäude steht am West Bund, einem ehemaligen Industriegebiet, das heute als Zentrum der Kunst- und Kulturszene gilt. Philippe Brunet, Renaults Technikvorstand, spricht hier über die Fahrzeugentwicklung in China. Als hätte es noch eines weiteren Beweises für die Technologiebegeisterung im Land bedurft, startet vom Helipad am Flussufer eine bemannte Drohne. Sie steigt nicht ganz bis zur 20. Etage auf und dreht ein paar Runden über dem Gelände am Flussufer, bevor der Pilot wieder sicher landet.

Renault will zwar nicht abheben, aber durch das Engagement in China neue Technik deutlich schneller als bisher auf die Straße bringen. Dabei verkauft der französische Autohersteller bis auf ein paar Nutzfahrzeuge keine seiner Modelle im Land. „Sie können weltweit keine zentrale Rolle bei E-Autos spielen, ohne in China vertreten zu sein“, sagt Brunet. Ihm geht es in erster Linie um die Entwicklungsgeschwindigkeit.

Um den Renault Megane E-Tech und den Clio 5 serienreif zu bekommen, haben die Ingenieure im Heimatland Frankreich vier Jahre benötigt. Die Vorgabe beim nun vorgestellten elektrischen Renault Twingo lautete zwei Jahre. „Neben der Halbierung der Zeit wollen wir einen Startpreis von knapp unter 20.000 Euro erreichen“, sagt Brunet.

Renault Technikvorstand Philippe Brunet erläutert die Schritte der Entwicklungsphase

Intern heißt das Projekt „Leap 100“. Leap steht für den Sprung, den man mit dem Projekt machen möchte. 100 ist die Zahl der Wochen, also knapp zwei Jahre. Die Aufgabe liegt jetzt bei den Ingenieuren des „ACDC“. Was normalerweise für Wechsel- und Gleichstrom steht, bedeutet bei Renault Advanced China Development Center. Dessen Büros befinden sich in einem benachbarten Gebäude.

In einem Studio im Erdgeschoss empfängt Jérémie Coiffier die Besucher. Hinter dem Leiter des Ingenieur-Teams steht ein verhülltes Auto. Man kann die Silhouette des Kleinwagens bereits erkennen. „Die Ausarbeitung des Konzepts für den elektrischen Twingo fand in Frankreich statt“, berichtet Coiffier. Ab dem sogenannten Concept Freeze, also sobald Technik und Design endgültig definiert waren, wurde die gesamte Entwicklungsarbeit an das Team in Shanghai übergeben.

„Wir entwickeln innerhalb von neun Monaten einen Engineering Prototyp“, sagt der Ingenieur. Das ist ein Auto ohne Verkleidung und Teppiche im Innenraum, mit nur einem Fahrersitz. Darin lassen sich alle technischen Funktionen testen. Aber warum geht das in China schneller? „Viele Arbeitsschritte laufen in Europa nacheinander, hier geschieht alles parallel.“, nennt Coiffier als Beispiel, „Entscheidungen durch das Management fallen in Europa in wöchentlichen Runden, hier wird täglich entschieden.“

Alle Mitarbeiter sämtlicher Abteilungen von der Antriebsentwicklung über die Software bis hin zu Fahrassistenten sitzen unter einem Dach. Kurze Wege beschleunigen die Zusammenarbeit. Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit Zulieferern. Die Fachabteilungen haben direkten Kontakt zu ihrem Ansprechpartner beim Lieferanten. Sämtliche CAD-Daten aller Bauteile liegen von Beginn an auf Servern im ACDC. In Europa befinden sich die digitalen Konstruktionsdaten in der Anfangsphase ausschließlich beim Zulieferer. Sie werden dem Auftraggeber erst später zur Verfügung gestellt. Auch die Auswahl der Zulieferer geschieht in China schneller. Beim Twingo hat man sich für nur 30 Anbieter entschieden, die alle entlang Chinas Ostküste beheimatet sind. Shanghai liegt dabei in der Mitte.

Der elektrische Renault Twingo

Homologation früher starten

Die zweite Phase vom Prototyp bis zum sogenannten Pre-Plant-Trial ist auf fünf Monate angesetzt. In dieser Zeit startet bereits das Debugging. Dabei konzentrieren sich die Ingenieure auf die 20 Prozent der Fehler, die 80 Prozent der Probleme verursachen. Parallel dazu werden mindestens zwei weitere Prototyp-Varianten gefertigt. Spätestens mit der dritten Version startet die Validierung mit Blick auf die Homologation. So heißt der Prozess einer Typengenehmigung in Europa. Jeder Hersteller muss belegen, dass ein Fahrzeug bei allen Funktionen und Bauteilen die gesetzlichen Vorgaben zur Sicherheit, den Leistungswerten sowie zu Umweltauflagen einhält. Bis zu 90 Prozent der hierfür benötigten Zertifikate werden bereits in Shanghai erstellt.

In der dritten Phase vor dem Produktionsstart geht es um die Optimierung der Bauteile. „Der Türgriff vom Zulieferer mag perfekt im Prototyp passen, aber wie verhält er sich, wenn er hunderttausendmal produziert und montiert werden muss?“, fragt Coiffier. Um Überraschungen zu vermeiden, muss man die genaue Ausführung aller Bauteile ebenso festlegen wie die Reihenfolge während der Montage. Diese Phase ist auf sieben Monate angelegt. „Somit haben wir es beim Twingo sogar in 21 Monaten von der Entwicklung bis zum Produktionsstart geschafft“, sagt Coiffier nicht ohne Stolz.

Renault Niederlassung Shanghai
In der 20. Etage des weißen Turms am West Bund in Shanghai hat die Renault Group China ihren Sitz

Zugang zu Lieferanten

Insgesamt stammen 46 Prozent aller Teile für den Twingo aus China. Doch wird nur ein kleiner Teil den Weg per Schiff nach Europa antreten. Die Zulieferer müssen in der Nähe der Fabrik fertigen. Gebaut wird der elektrische Kleinwagen in Novo Mesto in Slowenien. Dort rollt die Verbrennerversion des Fahrzeugs bereits seit 2007 vom Band. Sollte ein Zulieferer keine Produktion in Fabriknähe errichten, erwirbt Renault die Rechte an dem Bauteil und vergibt die Produktion an einen Auftragsfertiger in Europa.

Der wirtschaftliche Erfolg des elektrischen Twingo ist für Renault besonders wichtig. Seit seiner Einführung 1992 wurde der Kleinwagen insgesamt 4,1 Millionen Mal verkauft. Die vollelektrische Version kommt nun mit einer Lithium-Eisenphosphat-Batterie (LFP) von CATL auf den Markt, die 250 km Reichweite bei einem Verbrauch von 12 kWh pro 100 km verspricht. Renault hofft, dass sie ebenso erfolgreich wird wie die kürzlich vorgestellte, vollelektrische Neuauflage des R5.

Weiming Soh, CEO Renault China
Weiming Soh war 16 Jahre lang für VW China tätig, bevor er als CEO für Renault China tätig wurde

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