Polestar 4: Wie alltagstauglich ist der digitale Spiegel? – Elektroauto-News

Polestar 4

Was geschieht, wenn Kamera oder Bildschirm ausfallen? Diese Frage schwirrt die gesamte Fahrt über im Kopf. Natürlich passiert das während der winterlichen Tour im Polestar 4 entlang schneebedeckter Berge in Österreich nicht. Doch wenn der Rückspiegel aus einem Monitor besteht, denn ist die Frage durchaus berechtigt.

Die Antwort des Polestar-Sprechers ist ein Kopfschütteln. Das passiert nicht. Da sind sich Zulieferer und Hersteller sicher. Das schwedisch-chinesische Unternehmen verzichtet bei seinem SUV-Coupé auf eine Heckscheibe. Der Fahrer sieht, was oder wer hinter ihm fährt, dank eines so genannten Full Display Mirrors (FDM). Den liefert das US-Herstellers Gentex. Das System präsentierte der Zulieferer bereits vor zehn Jahren. Inzwischen nutzen weltweit 29 Autohersteller in 124 Modellen die Technologie. Im Jahr 2023 verkaufte Gentex 2,5 Millionen FDM-Systeme. Wer schon einmal Wohnmobil oder Transporter gefahren ist, dürfte Erfahrungen damit gemacht haben. Im Pkw-Bereich nutzen es Polestar als auch Kia bei seinem EV 9 GT, obwohl der eine Heckscheibe hat. Weiter verbreitet sind Kamera-Bildschirm-Kombis bei Außenspiegeln, wie es beispielsweise Audi und Kia einsetzen.

Kein Reinigungssystem

Beim Polestar 4 kommt eine 2,5 Megapixel-Kamera im hinteren Dachbereich zum Einsatz. Eine Heizung oder ein Reinigungssystem für beide Linsen gibt es nicht. Eine Linse liefert das Bild für den Rückspiegel, die andere zeigt den Bereich hinter dem Polestar 4 beim Rückwärtsfahren an. Beide Kameralinsen sind in dem Gehäuse einige Zentimeter zurückversetzt. Das schützt vor Verschmutzungen. Außerdem sind die Linsen mit einer wasserabweisenden Beschichtung versehen. Bei höherer Geschwindigkeit bläst der Fahrtwind Tropfen von den Kameras, so der Autohersteller. Bei unserer Testfahrt im Skigebiet bleibt es trocken und die Sonne lacht. Eigentlich zu einfache Testbedingungen für das FDM. 

Polestar 4 Heckkamera

Schnell umgewöhnt

Kritiker bemängeln bei dem System, dass man Entfernungen auf Bildschirmen nicht richtig einschätzen kann. Zudem müssen die Augen beim Blick in den Spiegel von fern auf nah fokussieren, was einigen Probleme bereitet. Nach wenigen Fahrminuten habe ich mich daran gewöhnt. Das umfokussieren meiner Augen lasse ich einfach sein, denn ich will gar nicht erkennen, welches Modell hinter mir fährt, sondern nur, ob da einer hinter mir ist. Auch wie dicht der an meinem Heck fährt, kann ich gut einschätzen. Gentex hat Nutzer eines FDM-Systems befragt: 82 Prozent sagen, dass sie sich nach wenigen Tagen oder früher an das System gewöhnt haben. Der Wert steigt nach den ersten Wochen der Nutzung auf 94 Prozent. 

Kein Flackern von LED-Scheinwerfern

Meine laienhafte Erklärung für das beschriebene Problem lautet: Der Monitor liefert ein gestochen scharfes und perfekt ausgeleuchtetes Bild – in den meisten Fahrsituationen ist es besser als ein klassischer Spiegel. Das menschliche Auge tendiert dazu, sämtliche Details in diesem Monitor-Bild erkennen zu wollen. Insbesondere bei Dämmerung liefert die Kamera ein besseres Bild als Glasspiegel. Bei Dunkelheit werden die hellen Scheinwerfer des nachfolgenden Fahrzeugs so wiedergegeben, dass sie nicht blenden. Das typische Flackern von LED-Scheinwerfern bei Kameraaufnahmen wird vom Image Signal Prozessor unterbunden. Der LCD-Bildschirm hinter einer Glasfläche hat eine Diagonale von 22,6 cm (8,9 Zoll). Die Kamers liefert 1.920 mal 1.280 Pixel, was leicht über HD-Auflösung liegt. Mit einem horizontalen Sichtfeld von 50 Grad bietet das System laut Gentex ein doppelt so breites Sichtfeld wie Glas-Rückspiegel. Bei der Testfahrt über Landstraßen sind links und rechts neben der Fahrbahn noch Bürgersteig oder Radweg sowie Teile der Felder oder Berge zu erkennen. 

Neigung beim Rückwärtsfahren

Der Monitor bietet zudem weitere Einstellmöglichkeiten. Die Helligkeit der Darstellung wird über Pfeiltasten am unteren Spiegelrand verändert. Gleiches gilt für den Bildausschnitt. Das Kamerabild kann weiter nach unten oder oben geneigt werden. Die Aktivierung der R-Option sorgt dafür, dass beim Rückwärtsfahren das Kamerabild automatisch nach unten neigt. So werden tiefstehende Hindernisse besser erkennt. Damit hat der Fahrer allerdings zwei Kamerabilder zur Auswahl. Die zweite Linse zeigt beim Rückwärtsfahren auf dem großen Bildschirm in der Mitte ebenfalls den Bereich hinter dem Polestar 4.

Toter Winkel im Blick

Deutlich praktischer ist die Blinker-Funktion. Sobald der linke Blinker gesetzt ist, zeigt der Rückspiegel-Monitor mehr vom linken Bereich hinter dem Fahrzeug. Somit ist beim Spurwechsel auf der Autobahn der tote Winkel im Blick. In der Stadt ist es beim Rechtsabbiegen praktisch, weil man Radfahrer und Fußgänger, die von hinten kommen, besser erkennt. Warum sich Polestart bei seinem SUV Coupé für das FDM entschieden hat, wird mit der Bauform begründet. Bei einem Coupé fällt die Dachlinie in der Regel bereits über den Köpfen der Passagiere im Fonds nach unten ab. Das bedeutet weniger Kopffreiheit. Die Polestar-Designer haben beim 4er das Glasdach bis hinter die Köpfe der hinten sitzenden Passagiere gezogen. Erst dahinter beginnt die Heckklappe aus Metall. Bei einer Fahrzeughöhe von 1,53 m wirkt der Polestar 4 mehr wie eine Limousine als wie ein typisches SUV.
Bereits bei der Fahrzeugpräsentation im Herbst 2024 konnte ich einen Polestar-Ingenieur fragen, ob aus strukturellen Gründen etwas dagegenspreche, die Heckklappe mit einer Glasscheibe zu versehen. Seine Antwortet lautete damals: Nein. Er gab allerdings zu bedenken, dass eine schräg stehende Heckscheibe nur einen Sehschlitz im Rückspiegel freigebe. Mit der FDM-Lösung biete man eine umfangreichere Sicht nach hinten. 

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