
Volvo hat Polestar die ersten Schritte in der Elektromobilität machen lassen – und es dann überholt. Hat Polestar eine eigenständige Zukunft?
Der Volvo EX90 ist das neue Flaggschiff in Sachen Elektromobilität für die Schweden. Der mehr als fünf Meter lange SUV ist geräumig. So geräumig, dass Volvo ihn auch mit sieben Sitzen anbietet.
Mit über 100 kWh in beiden Batteriegrößen ist das Auto für lange Fahrten konzipiert. Der Lidar-Sensor im Dach steht für automatisierte Fahrfunktionen. Noch sammelt der Sensor nur Daten, aber im Laufe des Jahres kommt ein Update, das assistiertes Fahren unterstützt. Von Level 3 mag der Pressesprecher nicht reden, aber es sei schon vorstellbar, dass es eine Art Stau- oder Autobahnassistent geben werde, sagt er.
Immerhin erkennt man bereits im schwarzen Kunststoff auf dem Lenkrad zwei Schaltflächen. Sie leuchten, wenn der Assistent verfügbar ist; gleichzeitiges Drücken aktiviert die kommende Fahrfunktion.
Auf dem Fahrersitz des EX90 fühlt man sich stark an den Polestar 3, das Flaggschiff der Schwestermarke, erinnert. Die beiden Stockhebel hinter dem Lenkrad, die Bildschirme und der Fensterheber, bei dem man einen Schalter drücken muss, um die hinteren Fenster zu öffnen, sind identische Bauteile.
Vermutlich sind es deutlich mehr, immerhin teilen sich beide Modelle die SPA-II-Plattform. Die Nutzung gleicher Bauteile senkt Kosten für die Hersteller, doch Käufer werden vor eine schwierige Entscheidung gestellt.
Volvo wächst gegen den Trend
Volvo erweitert sein E-Auto-Programm in diesem Jahr um eine Cross-Country-Version des kleineren SUV EX30. Im März wird die erste elektrische Limousine ES90 vorgestellt. Damit ist das Modellangebot mit SUV, SUV Coupé und Limousine identisch mit dem von Polestar.
Volvo rast der ehemaligen Performance-Marke davon. Gegen den Trend steigerte Volvo im vergangenen Jahr den Absatz von E-Autos weltweit um 54 Prozent auf 175.000 Stück. Mit insgesamt 764.000 verkauften Autos erreichen die Schweden ein neues Allzeithoch.
Intern hatte man einen Rückgang der Absatzzahlen erwartet, da es keine Dieselmotoren mehr im Programm gibt. Doch die Kunden entschieden sich für reine E-Autos oder Plug-in-Hybride. Global liegt der Anteil für beide Antriebsarten bei 23 Prozent.
In Deutschland ahnen zwar viele Autokäufer, dass der elektrische Antrieb die Zukunft ist, wagen aber noch nicht den Umstieg. Somit machten hierzulande im vergangenen Jahr Plug-in-Hybride 42 Prozent aus.
Erstmal sparen
Obwohl der E-Autoabsatz in Deutschland 2024 schrumpfte, legte Volvo zu. Die Zulassungen stiegen von 8.500 im Jahr 2023 auf 13.535 E-Autos im Jahr 2024.
Bei Polestar ging der Trend in die andere Richtung: 3.181 Zulassungen im vergangenen Jahr gegenüber 6.288 im Jahr 2023. In den ersten neun Monaten des Jahres 2024 machte Polestar 602 Millionen US-Dollar Verlust.
Der Gründungs-CEO Thomas Ingenlath musste im Herbst 2024 seinen Hut nehmen und wurde durch Michael Lohscheller ersetzt. Dieser ist mit Stationen bei Opel, Vinfast und Nikola ein erfahrener Automanager, aber ihm eilt auch der Ruf des Sanierers voraus. Schließlich begann er seine berufliche Laufbahn als Controller bei der Jungheinrich AG.
So spricht Lohscheller im Interview mit dem Handelsblatt (Paywall) von Kostensenkungen um 25 Prozent. Den gleichen Prozentsatz will er beim Personalabbau ansetzen.
Doch wie will man wachsen, wenn man spart? Nach wie vor ist Polestar im Vergleich zu Volvo die unbekanntere Marke. Polestar setzt auf Direktvertrieb über seine Webseite und in bundesweit neun sogenannten Spaces.
Service und Wartung der Fahrzeuge übernehmen in der Regel Volvo-Händler. Lohscheller will diese Händler davon überzeugen, Polestar-Modelle in die Showrooms zu nehmen und zu verkaufen. Doch wie viele werden sich Konkurrenz ins eigene Haus holen?
Eine chinesische Marke?
Anfänglich sah es so aus, als überließe Volvo der Marke Polestar den Weg in die Elektromobilität. Seit 1996 verwendete ein schwedisches Motorsportteam den englischen Namen des Polarsterns. Sie gingen mit Volvo-Modellen bei der Tourenwagenmeisterschaft an den Start.
Ab 2005 nutzte Volvo den Namen Polestar für seine Performance-Versionen, so wie es BMW mit der M-Reihe und Hyundai mit der N-Serie macht. 2015 übernahm Volvo die Markenrechte und brachte 2019 mit dem Polestar 1 einen hochpreisigen Plug-in-Hybriden auf den Markt.
Im Sommer 2020 wurden die ersten Exemplare des rein elektrischen Polestar 2 ausgeliefert. Fahreigenschaften und Design wurden in Presseberichten und Nutzerforen meist positiv bewertet. Doch niemand kannte die neue Marke, und sie wurde stärker als Volvo als chinesischer Hersteller wahrgenommen.
Dabei gehören beide Unternehmen unter das Dach der chinesischen Geely Holding. Aber während Volvo im schwedischen Torslanda, im belgischen Gent und demnächst im slowakischen Kosice produziert, kommen die Polestar 2 aus Luqiao in China.
Frankreich-Blockade
Fast vier Jahre blieb die elektrische Limousine das einzige Modell im Programm der jungen Marke. Polestar 3 und 4 kamen mit reichlich Verspätung Ende 2024. In Frankreich ist Polestar bis heute nicht gestartet. Citroën war der Ansicht, man könne den stilisierten Stern mit ihrem Logo verwechseln.
Polestar wollte das nicht vor Gericht klären und so zog sich die Einigung über zwei Jahre. Erst im Sommer dieses Jahres werden die ersten Polestar-Modelle im Nachbarland ausgeliefert.
Der schlimmste Rückschlag für Polestar kam im Februar 2024 – und zwar von der Schwestermarke. Volvo kündigte an, kein weiteres Geld zu investieren. Zusätzlich werde man den Aktienanteil an Polestar von 48 auf 18 Prozent reduzieren.
Der Mutterkonzern Geely sprang ein und übernahm die Wertpapiere. Wenn man heute mit Volvo-Managern spricht, sagen alle, das sei von Anfang an so geplant gewesen. Das mag stimmen, doch der Zeitpunkt war unglücklich gewählt.
Die kommenden Modelle 3 und 4 waren bereits in Sicht, aber noch nicht im Verkauf. Der Finanzvorstand musste Fehler in den Berichten von 2021 bis 2023 eingestehen, so dass diese korrigiert bei der Nasdaq eingereicht wurden. Das schwächte das Vertrauen der Anleger.
Ab Mai 2024 sank der Aktienkurs von Polestar unter die Notierung von einem US-Dollar. Dafür gab es eine gelbe Karte der Börsenleitung. Bleibt der Kurs zu lange unter dieser Marke, droht ein Börsenrauswurf.
Weitere Polestar-Modelle geplant
Einnahmen in dreistelliger Millionenhöhe verspricht sich Polestar von CO2-Ausgleichszahlungen. Als reiner E-Autohersteller übererfüllen sie die CO2-Flottenvorgaben der EU. Die freien Quoten dürfen sie verkaufen. Gemeinsam mit Volvo, Smart und Mercedes-Benz gründete Polestar einen CO2-Pool. Es ist quasi ein Geely-Pool, denn der chinesische Hersteller besitzt Anteile an den vier Marken.
Polestar versucht den Befreiungsschlag mit neuem Personal. Neben dem CEO wurden auch die Leitungspositionen von Design, Finanzen und Kommunikation neu besetzt. Und die Modellpalette wächst: In diesem Jahr wird mit dem Polestar 5 ein Grand Tourer vorgestellt. Der Kompakt-SUV Polestar 7 soll in Europa gefertigt werden. Mit dem Polestar 6 gibt es Pläne für einen sportlichen Roadster.
Doch ein Markenaufbau braucht Zeit. Ob Lohscheller und sein Team diese bekommen, ist ungewiss. Das Schicksal von Neulingen wie Byton, Fisker, eGo und Sono Motors sind dafür Beispiele. Wie nervös der gesamte Automarkt bei der Antriebswende ist, zeigt Audi. Der Konzern macht einen Rückwärtssalto bei seiner Nomenklatur. Eigentlich sollten E-Autos gerade Ziffern und Verbrenner ungerade bekommen. Nun bleibt alles beim Alten und der A6 kommt mit Benzinmotor.
Im internen Wettbewerb zwischen Volvo und Polestar ist eine Differenzierung der Modelle schwierig. Wie eingangs erwähnt, werden Plattformen und Bauteile gemeinsam genutzt. Polestar bleibt als ehemalige Performance-Marke nur die Geschwindigkeit. Während Volvo als Teil seines Sicherheitsversprechens alle Modelle bei 180 km/h abregelt, fährt die Allradversion des Polestar 3 bis zu 210 km/h.
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